Thesen zum gegenwärtigen Moment (vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages), 8. März 1918

Einführung

Beim GlossarBrester Frieden handelte es sich um einen Wendepunkt in der Geschichte der russischen Revolution und gleichzeitig um eines der umstrittensten Themen in ihrer Historiographie. In den 1920er Jahren zwangen die Parteidisziplin und die Logik des ideologischen Kampfes alle Führer der kommunistischen Opposition zur Anerkennung der leninschen Haltung in der Friedensfrage. Nach der Etablierung des Stalin-Regimes und der Beschuldigung GlossarBucharins, eine "Verschwörung" gegen die UdSSR angezettelt zu haben, wurde die Episode mit den GlossarLinken Kommunisten als Beginn seiner "Verschwörungstätigkeit" interpretiert und so eine einigermaßen objektive Betrachtung des Kampfes auf dem VII. Parteitag unmöglich. Dabei wurden die Argumente der Opposition bereits durch die Veröffentlichung der Dokumente des VII. (außerordentlichen) Parteitages der GlossarRSDRP(b) 1923 in vollem Umfang publik gemacht. Einer der Führer der Opposition – GlossarLev Trockij – setzte die Motive für seine Haltung zum Brester Frieden in seinen Memoiren "Mein Leben" (1930) auseinander.

Erst in den 1960er Jahren kam die sowjetische Geschichtswissenschaft erneut auf dieses Thema zurück. Ihr Standpunkt war weiterhin durch den offiziellen Kurs der "Geschichte der KPSS" bestimmt. Obwohl der Topos der "Verschwörung" aus ihren Interpretationen verschwand, wurden die Positionen Bucharins und Trockijs wie früher als schädlich für die "einzig wahre" leninsche Linie interpretiert. Soweit es zu dieser Zeit möglich war, wurde das Thema des Kampfes um den Brester Frieden in der Arbeit von A. Čubar'jan "Der Brester Frieden" (1963) dargelegt. In der westlichen Sowjethistoriographie wurde das Thema des Brester Friedens in allen umfassenden Darstellungen zur Geschichte der kommunistischen Partei behandelt. Die Haltung der Linken Kommunisten diente in diesen Untersuchungen als Hintergrund, vor dem sie GlossarLenins Politik beschrieben – als Politik, die Machiavellismus und Pragmatismus verband, wie es für linke Idealisten nicht vorstellbar war. Nicht nur R. Pipes, sondern auch der Bucharin-Biograph S. Cohen verstanden den Führer der Linken als einen radikalen Idealisten.

Obwohl seit dem Beginn der Perestrojka der Zugang zu historischen Quellen breiter und die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens größer wurde, wurde die bedeutendste russische Untersuchung aus dieser Zeit – die Monographie von I. Ksenofontov "Der begehrte und verhaßte Frieden" – ebenfalls von orthodoxen leninschen Positionen aus geschrieben. Doch wurden die Motive der Friedensgegner in dieser Arbeit ausführlicher dargestellt, als es früher der Fall war. Die gleichzeitig erschienene Monographie des amerikanischen Historikers Ju. Fel'štinskij "Der Untergang der Weltrevolution. Brester Frieden, Oktober 1917 – November 1918" vertrat einen deutlich antileninschen Standpunkt. Eine detaillierte Darstellung der Mechanismen des politischen Kampfes verband sich hier mit nicht hinreichend belegten Hypothesen (in erster Linie beziehen sie sich auf den Konflikt zwischen den GlossarBolschewiki und den GlossarLinken Sozialrevolutionären), die die Überzeugungskraft der Arbeit schwächten. Fel'štinskij verwarf jedoch die etablierte Meinung, die die Position Lenins als eine pragmatische und die seiner Gegner als eine emotionale und idealistische bewertete. Er zeigte, daß die Motive der Friedensgegner ebenfalls auf rationalen Argumenten gründeten. Die vorliegenden "Thesen" bestätigen dies mit aller Deutlichkeit.

Seit Februar 1917 wurde der Friedensschluß zur Schlüsselfrage der russischen Politik. Die Haltung der Bolschewiki zu dieser Frage, die sich in Hinblick auf die zukünftige Machteroberung als strategisch wichtig erweisen sollte, artikulierte sich in zwei Forderungen: erstens sei es notwendig, einen Frieden abzuschließen, selbst wenn es ein Separatfrieden wäre; zweitens müsse dieser Frieden für Rußland ein ehrenhafter sein und keine Annexionen und Kontributionen beinhalten. Nachdem die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht erobert und im Dezember 1917 einen Waffenstillstand mit den Deutschen abgeschlossen hatten, wurden im Dezember 1917 die deutsch-russischen Verhandlungen in Brest-Litovsk wieder aufgenommen. Sie zeigten schnell: Die deutsche Seite nahm die Parole eines "Friedens ohne Annexionen und Kontributionen" nicht ernst; sie wertete die Bemühungen Rußlands um einen Separatfrieden als Beweis seiner Niederlage und diktierte Bedingungen, die sowohl Annexionen als auch Kontributionen vorsahen. Gemeinsam mit Vertretern Österreich-Ungarns versuchte sie außerdem, den Umstand auszunutzen, daß Sowjetrußland Polen, Finnland und Völkern des Kaukasus und der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht gewährte, obwohl es gleichzeitig den Machtkampf der Kommunisten in diesen Gebieten unterstützte. Die Länder des GlossarVierbundes verlangten die Nichteinmischung in die Angelegenheiten dieser Staaten und hofften, deren Ressourcen nutzen zu können, die für den Sieg im Krieg unverzichtbar schienen. Rußland aber brauchte diese Ressourcen für den Wiederaufbau seiner Wirtschaft. Das demütigende Abkommen mit den "Imperialisten" war für die Revolutionäre inakzeptabel – sowohl für die Bolschewiki als auch für ihre Regierungspartner – die Linken Sozialrevolutionäre. Als Folge wurde im GlossarRat der Volkskommissare und im GlossarCK der RSDRP(b) der Beschluß getroffen, daß der GlossarVolkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Trockij die Verhandlungen möglichst lange hinauszögern und im Falle eines deutschen Ultimatums nach Petrograd zu Beratungen zurückkommen sollte.

Am 10. Februar 1918 stellten Deutschland und seine Verbündeten Rußland ein Ultimatum. Lenin, der der Meinung war, daß man in Anbetracht des Zerfalls der alten Armee, der weitverbreiteten Friedenssehnsucht und des drohenden Bürgerkrieges keinen Krieg gegen Deutschland führen könne, verlangte die Annahme des Ultimatums, um der Sowjetmacht auf diese Weise eine "Atempause" zu gewähren. Trockij schloß die Verhandlungen und fuhr nach Petrograd. Nach seiner Ankunft entbrannte im Rat der Volkskommissare und dem CK der RSDRP(b) eine heftige Diskussion. Lenin, der zugab, daß der Frieden schwer und demütigend, ja "schändlich" sei, verlangte wiederholt die Annahme des Ultimatums und bezichtigte Trockij eines Verstoßes gegen die Parteidisziplin, die schwere Folgen haben werde: Die Deutschen würden die Offensive wieder aufnehmen und Rußland dazu zwingen, einen Frieden unter schwereren Bedingungen zu akzeptieren. Trockij gab die Parole aus: "Weder Frieden noch Krieg, und die Armee ist aufzulösen". Dies bedeutete Verzicht auf Unterzeichnung eines Friedensabkommens bei gleichzeitigem Einstellen der Kampfhandlungen und der Auflösung der alten, sich zersetzenden Armee. Indem er den Friedensabschluß hinauszögerte, hoffte Trockij darauf, daß Deutschland seine Truppen in den Westen verlegen werde. In diesem Fall wäre die Unterzeichnung des demütigenden Friedens hinfällig geworden. Die Linken Kommunisten unter den Führung Bucharins und die Mehrheit der Linken Sozialrevolutionäre waren ihrerseits der Ansicht, daß man die "unterdrückten Völker der Welt" ihrem Schicksal nicht überlassen dürfe und gezwungen sei, einen "revolutionären Krieg", einen "Partisanenkrieg" gegen den "deutschen Imperialismus" zu führen. Einen solchen Krieg würde das ermüdete Deutschland nicht aushalten. Sie meinten, der Krieg sei ohnehin unvermeidlich, da die Deutschen in jedem Fall Sowjetrußland weiterhin unter Druck setzten würden, um es zu ihrem Vasallen zu machen. Hinzu kam, so ihre Argumentation, daß der Frieden die Anhänger der Sowjetmacht demoralisieren und der deutschen Regierung zusätzliche Kapazitäten für die Überwindung der sozialen Krise zur Verfügung stellen würde. Die Mehrheit des CK stimmte anfangs Trockij und Bucharin zu. Die Position der Linken erhielt die Unterstützung der Moskauer und Leningrader Parteiorganisation sowie etwa der Hälfte der Parteiorganisationen des Landes.

Während im Rat der Volkskommissare und im CK der RSDRP(b) heftige Debatten stattfanden, gingen die Deutschen zur Offensive über, eroberten bis zum 23. Februar 1918 Estland, Narva und Pskov und bedrohten Petrograd. Die Einheiten der Bolschewiki und die Reste der alten Armee vermochten es nicht, erfolgreichen Widerstand gegen die deutsche Offensive zu leisten. Doch auch die Deutschen konnten ihren Vormarsch ins Landesinnere nicht fortsetzen.

Lenin, für den die "Frage der Macht" die "Schlüsselfrage jeder Revolution" war, sah ein, daß ein breiter Widerstand gegen den deutschen Vormarsch nur bei einer Unterstützung möglich war, die stärker war als jene, über welche die Sowjetmacht zu diesem Zeitpunkt verfügte. Dies bedeutete, daß eine Fortsetzung des Krieges zu einer "Machtverschiebung" von den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären zu einer breiteren politischen Koalition führen würde, in der die Bolschewiki ihre Führungsposition nicht behaupten würden. Deshalb war für Lenin die Fortsetzung des Krieges mit der Folge oder Gefahr eines Vorstoßes ins Landesinnere inakzeptabel. Nachdem Lenin auf Widerstand gestoßen war, drohte er für den Fall, daß die "schädlichen" Friedensbedingungen nicht akzeptiert würden, mit seinem Rücktritt – unter den bestehenden politischen Bedingungen wäre dieser Schritt der Spaltung der bolschewistischen Partei gleichgekommen. Trockij begriff seinerseits, daß die Spaltung der bolschewistischen Partei effektiven Widerstand gegen den deutschen Einmarsch unmöglich machen würde. Unter dieser Einsicht gab er seinen Widerstand allmählich auf und enthielt sich bei der Abstimmung über den Friedensschluß der Stimme. Der Friedensschluß am 3. März 1918 war somit eine so gut wie beschlossene Sache. Seinen Bedingungen zufolge verzichtete Rußland auf seine Reche an Finnland, der Ukraine, im Baltikum und Kaukasus und war zur Zahlung von Kontributionen verpflichtet.

Der Brester Frieden wurde zu einem wichtigen Schritt in der Genese der bolschewistischen Diktatur. Erstens entzog er der Koalition mit den Linken Sozialrevolutionären die Grundlage – am 3. März verließen sie die Regierung. Zweitens zerstörte die Besetzung der Ukraine durch die Deutschen – mit einer anschließenden Expansion am Don – die Verbindungen zwischen dem Zentrum und den Getreide- und Rohstoffgebieten. Gleichzeitig begann die Intervention der Länder der GlossarEntentein Rußland, die auf diese Weise die Verluste auszugleichen suchten, die ihnen durch die russische Kapitulation entstanden waren. Die Besetzung der Ukraine und anderer Regionen vertiefte das Versorgungsproblem und verschärfte zusätzlich die Gegensätze zwischen Stadt und Land. Die Vertreter der Bauernschaft in den Sowjets, die Linken Sozialrevolutionäre, begannen jetzt eine Agitationskampagne gegen die Bolschewiki. Drittens wurde die Kapitulation gegenüber Deutschland zu einer Herausforderung für das Nationalgefühl des russischen Volkes und brachte Millionen von Menschen gegen die Bolschewiki auf. Nur eine strenge Diktatur konnte solchen Stimmungen widerstehen.

Der Frieden mit Deutschland bedeutete keinen Verzicht auf die Idee der Weltrevolution. Die bolschewistische Führung erkannte, daß ohne eine revolutionäre Explosion in Deutschland das isolierte Sowjetrußland den Übergang zum Aufbau des Sozialismus nicht bewältigen konnte. Die Revolution in Deutschland machte den Frieden später gegenstandslos; gleich nach dem Beginn der Novemberrevolution wurde er rückgängig gemacht.

Diese Probleme standen auf dem VII. (außerordentlichen) Parteitag der RSDRP(b) zur Diskussion, der vom 6. bis 8. März 1918 tagte. An der Abstimmung über den Friedensvertrag nahmen 47 Delegierte mit entscheidender Stimme und 59 mit beratender Stimme (darunter Lenin und Bucharin) teil. Lenin hielt auf dem Parteitag eine Rede, in der er den Beweis für die Notwendigkeit führte, den Friedensvertrag zu ratifizieren. Er meinte, sogar eine kleinere Offensive der Deutschen würde Rußland unvermeidlich in den Untergang führen. Mit einem Koreferat gegen den Frieden trat Bucharin auf, der seinerseits bewies, daß der Frieden keine Atempause gewähren würde, daß "das Schaffell der Gerbung nicht lohne" und die negativen Folgen des Friedens seine positiven Folgen überschatten würden. Ein unverzüglicher "revolutionärer Krieg gegen den deutschen Imperialismus" sei notwendig, der als Partisanenkrieg zu beginnen und nach der Stärkung der GlossarRoten Armee und der Schwächung Deutschlands, das gleichzeitig in Kämpfe an der Westfront verwickelt ist, in einen regulären Krieg zu überführen sei. GlossarM. Urickij, GlossarK. Radek, GlossarG. Oppokov, GlossarA. Bubnov, GlossarD. Rjazanov und einige andere stimmten dieser Position entschieden zu.

Die Grundaussagen seines Vortrages legte Bucharin noch einmal in den "Thesen" dar. Das Anliegen dieses Dokuments war, die Delegierten dazu zu bewegen, gegen die Ratifizierung des Brester Friedens zu stimmen und zu billigen, daß Kurs auf einen "revolutionären Krieg" genommen würde. Die "Thesen" faßten die Hauptargumente zusammen, die dafür sprachen, daß der Frieden keine reale "Atempause" bringen würde, während ein "revolutionärer Krieg" der Festigung der revolutionären Bewegung, sowohl in Rußland als auch auf der Welt, letzten Endes auch der Weltrevolution nutzen würde. Doch Lenin und seine Anhänger waren in einer Hinsicht nicht zu bekehren – in der Meinung, daß die Diktatur des Proletariats eine Atempause brauche, um Kräfte zu sammeln. Eine Reihe von Vorschlägen Bucharins – die Mobilisierung der Arbeiter, entschiedene soziale Maßnahmen zur Zerschlagung des russischen Kapitals, die Schaffung von internationalen kommunistischen Brigaden – gingen später in Lenins Überlegungen ein.

Über den Ausgang des Parteitages entschied die Autorität Lenins – seine Resolution wurde mit 30 Stimmen gegen 12 bei 4 Enthaltungen angenommen. Der Kompromißvorschlag von Trockij, Brest als letztes Zugeständnis zu betrachten und dem CK zu verbieten, einen Frieden mit der ukrainischen GlossarZentralrada zu schließen, wurde zurückgewiesen. Die Linken Kommunisten weigerten sich, sich am neuen CK zu beteiligen, was als Schritt zur Spaltung der Partei aufgefaßt wurde.

Hätten die Linken Kommunisten die Partei verlassen und wären sie ein Bündnis mit den Linken Sozialrevolutionären eingegangen, so hätten sie die Stimmenmehrheit auf dem Sowjetkongreß gewonnen. Doch sie wagten es nicht, gegen den Rest der Partei zu stimmen. Auf dem darauffolgenden IV. Sowjetkongreß, der am 15. März 1918 den Brester Frieden ratifizierte, enthielten sie sich der Stimme.

Aleksandr Šubin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)