Thesen zum gegenwärtigen Moment (vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages), 8. März 1918

Thesen zum gegenwärtigen Moment(vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages)

1. Der imperialistische Krieg verursacht bereits überall die Auflösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, verschärft die sozialen Gegensätze aufs äußerste, zersetzt die bourgeoisen Gruppierungen und untergräbt, wie im Falle Österreichs, die Lebensfähigkeit einer Anzahl kapitalistischer Organismen. All das zusammengenommen bildet den Nährboden für die reifende sozialistische Revolution, deren erste Anzeichen im Westen die Streiks und die verschiedenen Erhebungen in Österreich und Deutschland waren.

2. Der Krieg der imperialistischen Koalitionen kann jetzt von zwei Gesichtspunkten her betrachtet werden: Die Koalitionen sind entweder zeitweilig und geheim untereinander auf Rußlands Kosten einig geworden, oder sie sind noch immer zur Fortsetzung des Krieges bereit. In beiden Fällen müssen wir uns auf Anschläge des internationalen Kapitals gefaßt machen, die von allen Seiten her eine Teilung Rußlands anstreben. Im zweiten Fall wird Deutschland, gerade weil es den Krieg nur dadurch verlängern kann, daß es sich in den Besitz russischer Kornkammern und Rohmaterialien setzt, das Sowjetregime um jeden Preis vernichten wollen.

3. So machen daher sowohl der Klassenkampf als auch die imperialistische Ausbeutung unter den gegenwärtigen Umständen die friedliche Koexistenz Sowjetrußlands mit der imperialistischen Koalition der Zentralmächte unmöglich.

4. Dieser Zustand kam mit größter Klarheit in den Friedensbedingungen zum Ausdruck, die von Deutschland gestellt wurden und die in Wirklichkeit sowohl auf die Unterminierung der äußeren als auch der inneren Politik des Sowjetregimes hinauslaufen.

5. Diese Umstände schneiden die Zentren der Revolution von den Ernährungsquellen der Industriebevölkerung ab, zerteilen die Zentren der Arbeiterbewegung und zerstören einige der wichtigsten Industriegebiete (Lettland, Ukraine); sie unterhöhlen die Wirtschaftspolitik des Sozialismus (die Frage der Annullierung der Anleihen, die GlossarSozialisierung der Produktion etc.), bagatellisieren die internationale Bedeutung der russischen Revolution (Verzicht auf die internationale Propaganda), verwandeln die Sowjetrepublik in ein Werkzeug imperialistischer Politik (Persien, Afghanistan) und erstreben schließlich ihre Entwaffnung (die Forderung nach der Demobilisierung alter und neuer Einheiten). All das bietet nicht die Möglichkeit einer Atempause, sondern verschlechtert nur die Kampfbedingungen des Proletariats mehr denn je.

6. Ohne wirklich einen Aufschub zu gewähren, schwächt die Unterzeichnung des Friedens den revolutionären Willen des Proletariats zum Kampfe und hält die Entwicklung der internationalen Revolution auf. Die einzig korrekte Taktik würde daher die Taktik des revolutionären Krieges gegen den Imperialismus sein.

7. Angesichts der völligen Auflösung der alten Armee, deren Überreste weniger als nichts taugen, kann der revolutionäre Krieg in seinem ersten Stadium nur mit Hilfe fliegender Partisanenabteilungen geführt werden, die sowohl das Stadtproletariat als auch die ärmste Bauernschaft in den Kampf ziehen und die militärischen Handlungen, was uns angeht, in einen Bürgerkrieg der arbeitenden Klassen gegen das internationale Kapital verwandeln werden. Ein solcher Krieg würde trotz aller anfänglichen Niederlagen schließlich die Streitkräfte des Imperialismus zersetzen.

8. Außerdem würde die Mobilisierung des Proletariats, das infolge der Arbeitslosigkeit und des allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruchs seine Bedeutung als schaffende Schicht verliert, die Gefahr der proletarischen Desorganisation bannen und aus den Arbeitslosen Soldaten der proletarischen Revolution machen.

9. Das Grundziel der Partei muß daher eine klare taktische Linie sein, die auf dem Krieg mit dem Imperialismus beruht und die Verteidigung des Sozialismus in diesem Krieg mit dem höchsten Nachdruck organisiert. Die Kampfkraft einer sozialistischen Armee wird gerade durch den unmittelbaren Kampf selbst geschaffen.

10. Die Politik der führenden Organe unserer Partei war eine Politik der Schwankungen und der Kompromisse – eine Politik, die objektiv die proletarischen Widerstandsvorbereitungen hemmte und infolge ihres ständigen Schwankens selbst jene beispielhaften Abteilungen demoralisierte, die sich begeistert in den Kampf stürzten.

11. Die soziale Grundlage einer solchen Politik war die Verwandlung unserer Partei aus einer rein proletarischen in eine "allgemeine Volkspartei", ein Vorgang, der angesichts ihres riesigen Wachstums unvermeidlich war. Die Massen der Soldaten, die um jeden Preis und zu allen Bedingungen Frieden haben wollten und gar nicht mit dem sozialistischen Charakter der Regierung des Proletariats rechneten, machten ihren Einfluß geltend, die Partei sank auf das Niveau der Bauernmassen zurück, statt diese auf ihr eigenes Niveau emporzuheben, und verwandelte sich aus einer Avantgarde der Revolution in eine "mittelmäßige" Organisation.

12. Überdies wird selbst die Bauernschaft im Falle eines weiteren Kampfes mit dem internationalen Imperialismus unvermeidlich in diesen Kampf hineingezogen, weil sie sich von der großen Gefahr des Landverlustes bedroht sehen muß.

13. Unter diesen Bedingungen sind die Ziele der Partei und der Sowjetregierung:

a) Die Annullierung des Friedensvertrages.

b) Verstärkte Propaganda und Agitation gegen das internationale Kapital, die die Bedeutung dieses neuen Bürgerkrieges in das richtige Licht rücken.

c) Die Schaffung einer schlagkräftigen Roten Armee; die Bewaffnung der Proletariats und der Bauernbevölkerung und die geeignete Unterweisung der letzteren in der Kriegstechnik.

d) Entschiedene soziale Maßnahmen, die die Bourgeoisie ökonomisch vernichten, das Proletariat einen und die Begeisterung der Massen verstärken.

e) Unerbittlicher Kampf mit der Konterrevolution und dem Versöhnlertum.

f) Intensivste internationale revolutionäre Propaganda und Rekrutierung von Freiwilligen aller Nationalitäten und Staaten für die Rote Armee.

Rev. Übersetzung hier nach: Altrichter, H. (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 66ff.